Die “Lernlücken”-Debatte nach dem Corona-Schuljahr
Nicht nur das BMBF, die KMK oder der Deutsche Lehrerverband, auch mehrere Online-Nachhilfe-Unternehmen stimmen seit mehreren Monaten in die “Lernlücken”-Debatte ein. Das ist bei letztgenannten aus unternehmerischer Sicht nicht verwunderlich, bei den Bildungsverantwortlichen irritiert der Fokus auf die “Nachhilfemilliarde”. Wir bei Edkimo plädieren gerade in der Krise für Mut zur Lernlücke und dafür die Lernenden und das Erlebte in den Mittelpunkt zu stellen, um daraus echte und relevante Lernanlässe zu schaffen. Denn auch im anstrengenden Corona-Schuljahr wurde vieles gelernt!
Die Zahnfee und die kleine Maus
Fällt Kindern ein Milchzahn aus, hinterlässt das zwangsläufig eine unangenehme Zahnlücke. Oft bringt eine magische Fee (oder in Frankreich die kleine Maus) ein Geschenk für die Kinder, um den Verlust erträglicher zu machen. Niemals würde es der Fee einfallen, die entstandene Lücke wieder aufzufüllen, sie mit einem Ersatzmilchzahn zu schließen. Mehr vom Gleichen bringt da wenig. Viel wichtiger ist es zuzuhören, anzuerkennen, Emotionen zuzulassen. Kommt Zeit – kommt Zahn, sozusagen: ein neuer, stärkerer, besser verwurzelter. Und zwar ganz von alleine. Die Lücke gilt es eine Zeit lang auszuhalten. Mit oder ohne Zahnfee sind die meisten Kinder sogar stolz darauf. Denn in der Zahnkrise haben sie gelernt, Ängste zu überwinden und Widrigkeiten zu ertragen. Sie sind gewachsen und stärker geworden. Das würdigt die Zahnfee, kein Kind braucht sie als Lückenfüller!
Stofflücken nicht Lernlücken
In der Corona-Krise haben sich die vermeintlichen “Lernlücken” in den Diskurs um Schule und Bildung eingeschlichen. “Lücken” die es zu schließen gelte. Kürzlich beschrieb Stephan Bayer vom Online-Nachhilfe-Unternehmen Sofatutor seine Vision im Zeit-Interview: Es gehe darum, “das Schulsystem in seine kleinstmöglichen Atome zu zersprengen und aus jedem Atom ein Lernvideo zu machen”. Das Wort “zersprengen” ist in diesem Zusammenhang durchaus als deutsche Übertragung des Startup-Lieblingsbegriffs “Disruption” zu verstehen, den Adrian Daub (What tech calls thinking) und Justin Reich (Failure to disrupt) ausführlich kritisiert haben.
Mit der Atom-Metapher sind wir sofort beim Stoff. “Lernlücken” beschreiben in dieser Sichtweise im Grunde “Stofflücken”, Dinge die im letzten Jahr nicht explizit unterrichtet wurden. Lernlücken sind es jedoch nicht! Denn Lernen fand in dieser Zeit trotzdem statt! Das gilt es zunächst einmal ausführlich und explizit zu würdigen und anzuerkennen, ehe wir uns weiter über vermeintliche Lücken unterhalten. Dazu hilft es auch, in Anschluss an Justin Reich, das Lernen und die Digitalisierung unter dem Blickwinkel der Feuer-vs-Eimer-Metapher einzuordnen. Im Original-Zitat von Plutarch liest es sich so: „Menschen bilden bedeutet nicht, ein Gefäß zu füllen, sondern ein Feuer zu entfachen.“ Im Lückendiskurs werden nun eifrig Gefäße und Eimer gefüllt, auf die Gefahr hin, auch die kleinen Funken und das letzte Feuer zu löschen.
Unterrichten wir den Stoff oder die Lernenden
Die jahrzehntelange Gliederung des deutschen Schulsystems hat historisch eine bestimmte Haltung von Lehrkräften möglich gemacht oder sogar befördert. Manche Personen erinnern sich vielleicht noch an die eine oder andere Gymnasiallehrkraft, welche der Meinung war: “Ich unterrichte den Stoff, nicht die Lernenden”. Wer nicht mitkommt, geht eben an eine andere Schule! Zwanzig Jahre ist es nun her, dass der PISA-Schock das deutsche Bildungssystem von der Input-Steuerung (“der Lehrplan”) auf Outcome-Steuerung (“die Kompetenzen!”) umgestellt hat. Dennoch offenbart die “Lernlücken”-Debatte, dass wir immer noch reflexartig auf den Stoff und den Lehrplan fokussieren, wodurch wir zwangsläufig Lücken sehen, die es zu schließen gilt (oder Eimer zu befüllen).
In einem ungegliederten Schulsystem oder an einer Gesamtschule mit heterogenen Lernvoraussetzungen ist diese Haltung zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Hier gilt das Motto: “Ich unterrichte die Lernenden, nicht nur Stoff”, die Menschen stehen im Mittelpunkt. Wer so denkt, sieht natürlich auch Lücken, erkennt darüber hinaus aber auch unglaublich viele Lerngelegenheiten und Lernansätze. Der Fokus liegt auf dem Lernen – nicht auf der Lücke!
Was denken die Lernenden
Ein solcher Perspektivwechsel von der Lücke zum Lernen gelingt am einfachsten, wenn Lehrkräfte ganz einfach die Lernenden befragen, zuhören, neugierig sind und die Anstrengungsbereitschaft, die Motivation und das Durchhaltevermögen anerkennen: Was habt ihr gelernt im vergangenen Jahr? Was war gut? Was kam zu kurz? Was nehmt ihr mit? Das wird dabei helfen, die Funken zu entdecken, um ein großes Feuer zu entfachen und das Lernen gemeinsam zu gestalten. Wir haben dazu eine anonyme Schüler*innen-Befragung durchgeführt, die man leicht auch mit der eigenen Klasse als Diskussionsanlass nutzen kann.
Anstrengendes Schuljahr verdient kein Nachsitzen sondern erholsame Ferien
Wenn jetzt einige Bundesländer (z.B. Hessen) Online-Nachhilfe einkaufen, um Lernlücken zu schließen, dürfte sich das für viele der Lernenden wie Nachsitzen anfühlen. Ein dermaßen anstrengendes Corona-Schuljahr verdient unserer Meinung nach Anerkennung und erholsame Sommerferien, keine Strafmaßnahmen.
Fazit: die Grundfunktionen von Schule
“Die Kinder!”, “Das Leben!”, “Der Stoff!” und “Die Abschlüsse!” – so lauten die vier Grundfunktionen von Schule, die Jöran Muuß-Merholz in seinem lehrreichen Beitrag “Schule muss scheitern, wenn sie den Normalzustand simuliert” überspitzt formuliert und zusammengetragen hat. Denn Schule erfüllt in allen hochentwickelten Bildungssystemen dieser Welt vier gesellschaftliche Funktionen, die es abzuwägen und in der Gesamtschau zu beachten gilt:
- Betreuung und Wohlbefinden (“Die Kinder!”) Damit es Kindern gut geht und Erwachsene arbeiten gehen können.
- Sozialisation und soziales Leben (“Das Leben!”) Damit Kinder auf das Leben und das Zusammenleben in der Gesellschaft vorbereitet werden.
- Bildungsziele und Curriculum (“Der Stoff!”) Damit Kinder Kompetenzen, Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen erlernen.
- Bewertung und Selektion (“Die Abschlüsse!) Damit Kinder Prüfungen ablegen und Abschlüsse erlangen als Eintrittskarte für weiterführende Schulen oder Karrierewege.
Alle vier Ziele sind durch die Schulschließungen im zurückliegenden Corona-Schuljahr deutlich zu kurz gekommen. Und genau dieser Sachverhalt wurde von Lehrenden, Lernenden und Eltern mehrheitlich und einvernehmlich als anstrengende Stresssituation empfunden. Die fatale Verkürzung der Krise auf “den Stoff!”, damit letztlich “die Abschlüsse!” sichergestellt werden, stellt eine defizitäre Sicht auf das Lernen und eine unnötige Verkürzung dar. Lasst uns gerade jetzt in dieser Krisensituation in der Corona-Pandemie “die Kinder!” und “das Leben!” in den Mittelpunkt stellen und alles andere darauf aufbauen.