Das Buch „Die Pädagogik der Gefühle“ beleuchtet die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden auf allen Ebenen des Bildungssystems, von der Einschulung bis zum Universitätsabschluss. Obwohl die englische Originalfassung bereits 1983 erschien, hat das Buch nichts an Aktualität verloren.
Erinnern Sie sich noch an Ihre Kindergartenzeit? Oder haben selbst kleine Kinder in Ihrem Umfeld kürzlich beobachtet? Ein beliebtes Spiel besteht darin, einen Turm aus Bauklötzen zu errichten. Doch was passiert, wenn dieser Turm umstürzt? Wie geht das Kind mit dem Misserfolg um? Manche Kinder werden zornig und stoßen den nächsten Turm aktiv um, andere lenken sich direkt mit einem anderen, einfacheren Spielzeug ab. Und wieder andere versuchen es immer wieder von neuem…
„Lernen geht in einer Situation vor sich, in der wir etwas nicht wissen oder noch nicht können. Daher beinhaltet es immer ein gewisses Maß an Unsicherheit, Frustration und Enttäuschung“, beschreibt Isca Salzberger-Wittenberg die Gefühle hinter dem Lernprozess, der eben nie von ganz allein funktioniert.
Salzberger-Wittenberg ist eine der drei Autor*innen von „Die Pädagogik der Gefühle. Emotionale Erfahrungen beim Lernen und Lernen“ und hat einen Großteil der knapp zweihundert Seiten des Buches verfasst. Ihr zentrales Thema ist die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden auf allen Ebenen des Bildungssystems, von der Einschulung bis zum Universitätsabschluss. Ziel ist es, die Lesenden für die emotionalen Faktoren zu sensibilisieren, die beim Lernen und Unterrichten ins Spiel kommen und so zu einem besseren Verständnis der Wechselbeziehung zwischen Lernenden und Lehrenden beizutragen. Die Kapitel von Elsie Osborne zur “Arbeit mit Familien und Kollegen” und von Gianna Henry-Williams über das “Verständnis für das Kind in der Klasse” sind eher als Ergänzung zu lesen, wenn auch für Lehrkräfte sicherlich ebenfalls nicht zu vernachlässigen, gerade wenn es um Klassendynamiken und die Zusammenarbeit mit Eltern und Sozialarbeiter*innen geht.
Theorie und Entstehungshintergrund
Vom theoretischen Ansatz her betrachtet „Die Pädagogik der Gefühle“ die emotionalen Aspekte des Lehrens und Lernens aus einer Perspektive der psychoanalytischen Pädagogik. Grundlage für die Inhalte des Buches ist ein Weiterbildungskurs für Lehrkräfte an der Londoner Tavistock Clinic, den Salzberger-Wittenberg Anfang der 1980er Jahre durchführte. Im Buch verknüpft sie theoretische Überlegungen mit Fallbeispielen und der Beobachtung und Analyse des Kurses selbst.
Eine neue Lernsituation beginnt
Bereits die Einschulung – oder analog der Beginn des Fortbildungskurses – zeigen es deutlich: Der Beginn einer neuen Lernsituation ist nicht nur mit Neugier und Erwartungsfreude, sondern auch mit Angst verbunden: vor den neuen Räumlichkeiten, der Gruppensituation, der unbekannten Lehrperson oder einfach nur dem Zustand des Nichtwissens. Diese kindlichen Ängste werden auch bei den Lehrkräften selbst reaktiviert, wie Salzberger-Wittenberg selbstkritisch erkennt: „Wenn Lehrer einer neuen Klasse gegenüberstehen, erleben auch sie dieses Gefühl des Anfangs, und es können sich Zweifel einstellen, ob sie wohl der neuen Situation gerecht werden.“
Einflüsse aus der Kindheit
Die Einflüsse aus der Kindheit und ihre Übertragung auf die Gegenwart sind ein entscheidender Schlüssel des psychoanalytischen Ansatzes der Autorin Isca Salzberger-Wittenberg. Frühe emotionale Beziehungen und Erlebnisse bilden innere Muster, die in der Schule oder Universität reaktiviert werden – sowohl bei den Schüler*innen und Studierenden, als auch bei den Lehrenden selbst. Und je unbewusster diese Muster für uns sind, um so mehr Einfluss haben sie. Dabei ist es an der Lehrperson zu erkennen, warum Kinder und junge Menschen in einer bestimmten Form handeln oder sich emotional äußern. Denn nur wenn Lehrkräfte die „innere Welt“ der Lernenden verstehen lernen, können sie ihnen gegenüber überhaupt Einfühlungsvermögen entwickeln. Und dieses Einfühlungsvermögen ist wiederum nötig, um den Prozess des Lernens wirksam begleiten zu können. Auf das Eingangsbeispiel des Turmbaus angewandt heißt das: jedes Kind, auch das aggressive oder vermeintlich interessenlose, dabei zu unterstützen, den negativen Gefühlen standzuhalten und es immer wieder von neuem zu versuchen.
Die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden
Der Mensch lernt vom Augenblick seiner Geburt bis an sein Lebensende. Dabei stehen wir in einem Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Menschen. Zunächst sind es die Eltern oder älteren Geschwister, später die Lehrkräfte, die uns anleiten und ihr Wissen mit uns teilen. Wie aber diese Lehr-Lern-Beziehung aussieht, davon hängt ab, ob und wie wir fähig sind zu lernen. Schüler*innen verstehen Lehrkräfte oft als allwissend, als Quelle von Trost und Fürsorge, als Richter*in oder Objekte von Bewunderung und Neid. Für Lehrkräfte ist ein wichtiger Faktor, der in ihre Beziehung zu den Schüler*innen miteinfließt, die Frage, warum sie selbst Lehrer*in geworden sind: Haben Sie die Schule so geliebt, dass sie die eigenen Erfahrungen wiederholt sehen wollen? Oder haben Sie die Schule gehasst und wollen es ganz anders machen? Wenn Lehrkräfte darüber niemals nachdenken, sind sie – folgt man dem Ansatz des Buches – in ihren Emotionen gefangen und können nicht bewusst agieren.
Feedback einholen, aber wann?
Feedback wirkt. Die Verfasserin des Buches ist sehr offen für den Rückkanal zwischen Lehrenden und Lernenden, möchte aber vor allem den Zeitpunkt richtig gewählt wissen. Die beliebte Befragung kurz vor den Sommerferien könne dabei, obwohl gut gemeint, im Ergebnis oft wenig hilfreich sein. Denn wer fühlt sich schon wirksam, wenn über die Antworten erst Wochen später oder nie gesprochen wird? Werde die Möglichkeit zum Schülerfeedback hingegen zu einem früheren Zeitpunkt geboten, könnten brisante Gefühle noch zum Ausdruck gebracht und direkt bearbeitet werden.
Beenden und weiterlernen
Jede Lernsituation hat einmal ein Ende. Denken Sie manchmal an Ihren Schul- oder Studienabschluss zurück? Sind Sie – und sei es Jahre später – noch mal zu Ihrer Schule zurückgekehrt, beim Tag der offenen Tür oder einfach heimlich, nur um sich zu vergewissern, dass der ehemalige Lernort noch existiert? Das ist nichts Außergewöhnliches, wie es im letzten Kapitel des Buches „Pädagogik der Gefühle“ beschrieben wird. Denn das Ende einer Lernsituation sei eben nicht nur der Erfolg eines Abschlusses, sondern immer auch ein Verlust, den wir verarbeiten müssen. Die Art, wie wir damit umgehen, könne „entscheidenden Einfluß darauf haben, welche Teile der Vergangenheit wir am Leben erhalten und in Gegenwart und Zukunft kreativ anwenden.“
Moderne Rolle der Lehrkraft
Die Neugier am Lernen entfachen, den Frust der Lernenden vor dem Nichtwissen aushalten und nicht persönlich nehmen, einfühlsam unterstützen: das ist eine recht moderne Auffassung des Lehrkraftberufes. Und doch ist diese bereits in „Pädagogik der Gefühle“ enthalten. Obwohl das Werk bereits 1997 erschienen ist und die englische Originalfassung sogar schon 1983, haben seine Inhalte und Interpretationsansätze nicht viel an Aktualität verloren. Die Lektüre lohnt sich in jedem Fall.
Hier noch ein abschließendes Zitat von Isca Salzberger-Wittenberg, das deutlich macht, wie zentral sie die Schule als Ort der Persönlichkeitsbildung betrachtet: „Die Schule als wesentlicher Hintergrund des kindlichen Erwachens und die Lehrer mit ihrem ungeheuren Einfluß auf die Schüler tragen daher große Verantwortung dafür, Erfahrungen zu ermöglichen, die Vertrauen anstatt Idealisierung und Furcht erzeugen und dadurch den Menschen in seiner Entwicklung fördern.“
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