Wie entstand Edkimo? Und welche Idee von guter Bildung steht dahinter? Ideengeber Sebastian Waack im Gespräch mit Dominik Dresel über Bildungsgerechtigkeit, Lernkultur und Digitalisierung.
Intro
Sebastian Waack, mit dem mich seit vielen Jahren eine Freundschaft verbindet, passt in keine Schublade. Er ist Pädagoge, Physiker, Bildungsforscher, Musiker, Autor und EdTech-Unternehmer – vor allem aber ein kluger und kritischer Geist. Geboren in Eisenach (DDR) spülte ihn die Wende als Zehnjährigen in ein neues Land und eine neue Schulform – „die Lehrer blieben zwar dieselben, aber sie erzählten plötzlich etwas ganz anderes”. Aus der ostdeutschen Provinz zog es ihn unter anderem nach St. Petersburg, Paris und schließlich nach Berlin, wo wir uns 2015 kennen lernen durften und Sebastian zunächst am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen der Humboldt Universität Standards für das Fach Mathematik in der Grundschule mitentwickelte, und später am Neuköllner Campus Rütli unterrichtete.
2015 gründete er dann mit zwei Mitstreitern das Start-up Edkimo. Aus einer Ausgründung des Lüneburger Gamification Labs ist inzwischen ein Unternehmen mit 8 Mitarbeitern in Berlin und Marseille, wo Sebastian mit seiner Frau und zwei Kindern lebt, geworden. Ich habe mit ihm schon viele spannende und lehrreiche Gespräche geführt – umso mehr hat es mich gefreut, auch für dieses Format mit ihm zu sprechen.
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Hallo Sebastian, das Leben ist kurz – warum hast du dich entschieden, deine Zeit und Energie ausgerechnet im Bildungsbereich zu investieren?
Sebastian: Ich finde Lernen einfach unglaublich spannend. Wohl auch deshalb, weil es immer noch ein großes Rätsel ist. Wir wissen zwar genau “was” gelernt werden soll und wir interessieren uns spätestens seit dem PISA-Schock auch dafür, was tatsächlich herauskommt. Aber abgesehen von Lehrplan und Kompetenzen ist die Frage nach dem “Wie” des Lernens immer noch eine Blackbox. Damit meine ich nicht nur den Wissenszuwachs, sondern auch die Veränderung von Haltungen, Einstellungen und Verhalten. Wie konstruieren wir uns unsere eigene Welt? Im Austausch und gemeinsam mit anderen Menschen.
Am Anfang wollte ich Lehrer werden, aber je mehr ich im Studium das System Schule von innen kennenlernte, desto weniger konnte ich mir vorstellen an einer ganz normalen Schule zu arbeiten. Am Campus Rütli habe ich dann viel später gelernt, wie unterschiedlich gute Lehrer/innen und guter Unterricht sein können. Und ich habe versucht, selbst ein guter Lehrer zu sein und das Lernen auch mit den Augen der Schüler/innen zu sehen und zu verstehen. Das war mit Abstand der herausforderndste und anstrengendste Job, den ich bisher hatte.
Was ist deine persönliche Vision von guter Bildung?
Sebastian: Bildung ist so ein wunderbar deutsches Wort. Wie die meisten Wörter mit der Endung -ung beschreibt es sowohl einen Zustand als auch einen Prozess. Leider vergessen wir diesen “Prozess” allzu oft, wenn es nur auf den “Zustand”, das messbare Ergebnis, ankommt. Dabei sollte meiner Meinung nach der Weg mindestens so wichtig sein, wie das Ziel selbst.
Dominik: Da will ich gleich mal nachfragen: in welchem Bezug steht dein unternehmerisches Wirken – das du ja sozusagen dem “messbaren Ergebnis” verschrieben hast – zu dieser Philosophie? Wir beide sind ja, meine ich, durchaus kritisch gegenüber einer ungezügelten Quantifizierung, Standardisierung, Kommodifizierung des schulischen Lernens. Inwieweit ist Edkimo möglicherweise daran beteiligt, die Vermessung des Unvermessbaren vorzutäuschen?
Sebastian: Ich stimme dir voll zu! Vor allem was das “Vermessen” angeht. Da kommt mir spontan ein Gedanke aus dem Buch von Steffen Mau “Das metrische Wir” in den Sinn, der auf die dreifache Bedeutung des Wortes “vermessen” hinweist: Wir “vermessen” und quantifizieren etwas. Wir messen aber immer auch falsch, d.h. wir “vermessen” uns und bilden niemals die Realität exakt ab. Und insofern ist der Glaube an die allumfängliche Quantifizierung oder “die Vermessung des Unvermessbaren” wie du es ausdrückst, durchaus “vermessen”, im Sinne von übertrieben und unangebracht.
Wir bei Edkimo sind uns vollkommen der Grenzen des Vermessens, der Psychometrie und Statistik bewusst. Wir verteufeln sie aber auch nicht sondern setzen unseren Schwerpunkt im Vergleich zu anderen eben nicht auf das Messen mit standardisierten Fragebögen, sondern vielmehr auf den Dialog über den Lernprozess.
Drei gute Fragen, die für die Zielgruppe relevant sind, bringen im Lernkontext viel mehr als ein 100-Fragen-langer standardisierter Fragebogen, der vorgibt “Unterrichtsqualität” zu vermessen. Edkimo unterstützt Lehrkräfte dabei, die wenigen relevanten Fragen schnell, einfach und gut zu formulieren. “Little data” statt “Big data” sozusagen, dafür aber wirkungsvoll, menschlich verständlich und für eine konkrete Veränderung relevant.
Welches Problems nimmt sich Edkimo an?
Sebastian: Aus der Unterrichtsforschung wissen wir, dass Feedback eine der wichtigsten Einflussgrößen für einen erfolgreichen Lernprozess ist. Und das gilt insbesondere für Feedback von den Lernenden an die Lehrperson. Das ist eine der Kernthesen der Hattie-Studie “Visible Learning” von 2009 aber war auch in der deutschsprachigen Unterrichtsforschung längst bekannt. Woran liegt es also, dass man diesen leicht zu verändernden Faktor nicht stärker im Schulalltag nutzt? Und ich sage “leicht” weil es in der Hand jeder einzelnen Lehrperson oder Schule liegt, die Feedbackkultur im Unterricht zu verbessern bzw. aufzubauen. D.h. Schülerfeedback wirkt und wir können Feedback schon morgen einsetzen, wenn wir wollen. Wieso ist es dann doch so schwer umzusetzen?
Dominik: Und wieso ist Schülerfeedback dann so schwer umzusetzen?
Sebastian: Weil wir an so vielen Stellschrauben gleichzeitig arbeiten müssen: abgesehen von der technischen Infrastruktur – Stichwort WLAN an Schulen – vor allem auch an der Grundhaltung und am Rollenverständnis der Lehrkräfte. Außerdem an der Fehlerkultur und am Grundvertrauen: Feedback tut nicht weh und wenn die Schülerinnen und Schüler gefragt werden, geben sie sehr konstruktive Rückmeldungen. Denn Feedback ist eben keine Bewertung.Und umgekehrt gilt: Noten sind kein Feedback, da sie keinerlei lernrelevante Informationen enthalten und mir nicht sagen, wie ich besser werden kann. Insofern bedeutet “Schülerfeedback” eben nicht “Lehrerzeugnis”. Es geht nicht um meine Person als Lehrkraft, sondern um den Einstieg in den Dialog über den Lernprozess, um Feedback und Feedforward. Dieses neue Verständnis muss sich erst aufbauen und entwickeln.
Und wie tragt ihr zur Lösung bei?
Sebastian: Edkimo ist eine spielerisch einfache, datensparsame und anonyme Feedback-App. Unsere App beschleunigt den Feedbackprozess. Was früher Tage oder Wochen dauerte, funktioniert mit Edkimo in 5 Minuten: Fragen stellen, Rückmeldungen einholen und die Ergebnisse besprechen.
Wir sind 2015 gestartet mit 2-3 Lehrkräften pro Monat und hatten nur 3 vorgefertigte Fragebogenvorlagen im Angebot. Mittlerweile haben wir über 10.000 Nutzer/innen pro Tag und über 100.000 von Lehrkräften selbst entwickelte Fragebögen. Lehrkräfte wollen auf Edkimo vor allem ihre eigenen Fragen stellen. Und wir unterstützen sie dabei, gute Fragen zu formulieren und durch eine verständliche Aufbereitung der Ergebnisse auf das Lernen und die nächsten Schritte zu fokussieren.
Was war die eine wichtige Lernerfahrung, die du beim Aufbau von Edkimo gemacht hast?
Sebastian: Der Aufbau unseres Startups ist ein Marathon, kein Sprint. Und als Bildungsstartup ist es sogar ein Triathlon. Man braucht einen extrem langen Atem, ein gutes Team und den festen Glauben an die Idee. Denn Veränderungen im Bildungswesen brauchen Zeit. Viel Zeit sogar. Zwar wusste ich das auch vorher. Aber wie lange es letztlich dauern würde, diese Veränderungen nicht nur anzustoßen, sondern auch im Schulalltag umzusetzen und nachhaltig zu integrieren, hätte ich nicht gedacht. Wir arbeiten jetzt seit über sieben Jahren an Edkimo.
Dominik: Ich sage manchmal provokant: Schule verändert nichts, Schule verändert sich im Grunde nicht mal selbst. Schule ist einfach nur ein Spiegel einer Gesellschaft, das Wasser, in dem sie schwimmt. Das ist eine sehr fatalistische Betrachtung, und so ganz stimmt sie hoffentlich nicht. Aber so schön der Gedanke ist, Schulen seien “Treibhäuser der Zukunft”, so wahrer scheint mir zu sein: Schulen sind Silos in denen das Getreide von gestern liegt. Wachstum und Erneuerung findet draußen auf dem Feld statt. Da würden mich auch deine Hypothesen interessieren.
Sebastian: Ich sehe das etwas weniger fatalistisch als du. Schule ist zunächst einmal der Ort, an dem wir alle in unserer Kindheit und Jugend ziemlich viel Zeit verbringen. Ich schätze im Durchschnitt 30 Stunden pro Woche. Dort wird viel gelernt, wenn auch vermutlich viel weniger aus dem Unterricht “hängen bleibt” als sich die Lehrkräfte erhoffen. Das meiste lernen wir nebenbei. Oder wie man auf englisch sagt: “it is caught not taught”. Das Curriculum, die Lerninhalte und die Kompetenzen sind wichtig und wir sollten sorgsam mit diesem expliziten Lernen umgehen. Viel wichtiger scheinen mir aber die Schulgemeinschaft, die Sprache, die Rahmenbedingungen, die Beziehungen, das Zugehörigkeitsgefühl, der Gestaltungsspielraum, die Rollenmodelle, der Ton einer Schule… Das prägt uns für später, dadurch lernen wir für die Zukunft und für unser Leben. Und dieses implizite Lernen in der Schule haben wir als Schulgemeinschaft selbst in der Hand, das können wir verändern. Dafür ist das staatlich vorgegebene Curriculum am Ende völlig egal und dafür kann es auch keine allgemeine Lösung für alle geben. Jede Schule muss das für sich aushandeln und hat die notwendigen Ideen und die Expertise immer schon vor Ort. Ich bin ein starker Verfechter der Autonomie der Einzelschule, denn dort findet die Veränderung statt. Das führt am Ende auch zu einem veränderten System und wirkt zurück in die Gesellschaft. Genauso wie wir bei Edkimo immer sagen, “Fragt doch einfach mal eure Schülerinnen und Schüler. Sie wissen selbst, wie sie am besten lernen.”, kann man das auch auf die Schule übertragen. “Fragt doch einfach mal die Schülerinnen und Schüler, die Eltern und das Kollegium. Eure Schulgemeinschaft weiß selbst, wie gute Schule funktioniert.”
Was bringt die Zukunft?
Sebastian: Ich hoffe, dass die Zukunft eine kritischere, wohl überlegtere Digitalisierung im Bildungsbereich mit sich bringt. Wir müssen endlich verstehen, dass “Digitalisierung” kein Zustand sondern vor allem ein Prozess ist. Es genügt nicht, einfach Interaktive Whiteboards an die Wände zu schrauben und zu denken, das war’s dann. Vielleicht wäre es sogar besser, die Smartboards wieder zu entfernen und stattdessen die Handys zu nutzen und den Beamer für alle freizugeben. Digitalisierung ist kein Allheilmittel. Wenn wir wollen, dass sie nicht nur veraltete Strukturen und Pädagogik verfestigt und verstärkt, dann müssen wir zuallererst unsere Haltung ändern. Und dies erfordert ein völlig neues Rollenverständnis von Lehrkräften und eine viel stärkere Einbeziehung der Sichtweise und der Lebenswirklichkeit der jüngeren Generation. Wir sind dann immer alle Lehrende und Lernende zugleich.
Du hast einen Wunsch frei. Was nun?
Sebastian: Ich wünsche mir, dass wir aufhören, einfachen Versprechungen, alternativen Fakten und vermeintlichen Wahrheiten hinterherzulaufen und endlich das tun, was zu tun ist um die Erderwärmung zu stoppen. Es gibt keine zweite Erde! Ich glaube nicht an den Mars oder die künstliche Intelligenz. Wir wissen genau, wie wir unseren Planeten für alle lebenswert erhalten können, jetzt und für die Zukunft. Lasst es uns tun! Gemeinsam und ehe es zu spät ist. Der Dodo-Song von The Streets kommt mir da immer in den Sinn: “It’s not earth that’s in trouble, it’s the people that live on it. Earth will be here long after we’ve all gone the way of the Dodo.”
Dominik: Ich denke immer an ein Zitat, das angeblich von Jerry García von den Grateful Dead stammt: “Somebody has to do something, and it’s just incredibly pathetic that it has to be us.”
Sebastian: Schönes Zitat! Also los, lass uns mal die Welt retten… 🙂
Dieser Text erschien im Sommer 2022 in der Reihe Kurzgespräche mit Impulsgebern der deutschen Bildungslandschaft auf dem Blog EdBrief.de.